Von Leben und Tod

Vom Leben bis zum Tod. Wenn jemand von uns geht, gibt er den Hinterbliebenen die Gelegenheit über das Leben nachzudenken. Der Tod ist das einzig Gewisse während unseres Lebens. Er begleitet uns von dem ersten Moment, in dem die Seele unseren Körper betritt: Mit dem ersten Herzschlag, der unseren Körper mit Leben beschert, sind wir bereit zu sterben, weil wir leben. Das Baby kann bereits während der ersten Wochen im Bauch der Mutter sterben, oder in den darauffolgenden Monaten, oder bei der Geburt, oder kurz darauf, oder in den ersten Lebensmonaten und Jahren, oder etwas später … oder erst im Alter. Niemand ahnt genau, wann der Moment kommt, aber jeder weiß, dass er gewiss kommen wird. Für das Leben gibt es keine Garantie, doch der Tod kommt garantiert. Warum tun wir dann so, als würde etwas, was uns so nahe liegt, nie kommen?

Wir versuchen aus ungewissen Angelegenheiten Gewissheit zu machen: Was wird die Zukunft mit sich bringen? Wen werde ich heiraten? Wann werde ich mich vermählen? Wie werden meine Kinder heißen? Was werde ich mal werden? Wo werde ich in fünf Jahren stehen? Und und und … Aber von dem einzig Gewissen rennen wir weg, denn kaum jemand will sterben und keiner will so richtig leben.

Vor einiger Zeit sagte ich meiner Familie, sie sollen nicht um mich trauen und weinen, wenn ich soweit bin, die Erde zu verlassen.

Ach! Musst du jetzt über so etwas reden?“, fragten sie.

Wann ist der richtige Moment, über das einzig Sichere auf unserer Lebensbahn zu sprechen: mit fünf, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, achtzig? Wann sind wir bereit, über das Unvermeidliche zu sinnieren und uns dafür vorzubereiten?

Meine Oma ist vor einigen Jahren von uns gegangen.

Und obwohl wir doch alle wussten, dass der Tag kommen wird – denn es hat noch keinen Menschen gegeben, der geboren und nicht gestorben ist, waren wir unvorbereitet dafür. Sie lag sieben Tage im Koma. Alle weinten. Alle fühlten sich machtlos und ich konnte nicht verstehen, was der Grund der Unruhe war. So kontaktierte ich meine Verwandte, um mich aufklären zu lassen.

Am Sonntag, den 9. Mai telefonierte ich mit meinem Onkel.

Warum bist du so unruhig. Sie gibt uns Zeit, damit wir uns vorbereiten“, sagte ich.

Die Ungewissheit macht es mir zu schaffen“, erwiderte er.

Spätestens am Freitag wird sie entlassen.“

Die Ungewissheit über das einzig Gewisse war sein Grund des Unbehagens. Dann telefonierte ich mit meinem anderen Onkel. Seine Geschichte war so bewegend wie seine Ehrlichkeit.

Wir können den Tod nicht verhindern, aber wir könnten unsere Sicht dazu ändern“, sagte er. „Mir ist bewusst geworden, dass der Tod nicht das Ende ist. Es ist nur so, als würde der Verstorbene von einem Raum in einen anderen gehen und damit für uns unsichtbar werden. Aber er ist da; unter uns.“

Für mich ist der Tod nur ein Übergang von einer Form in einen anderen, unsichtbaren Zustand.

Es gilt der Energieerhaltungssatz, der besagt, dass die Energie nicht verloren geht, sondern sich nur von einer Form in eine andere umwandelt. Dass wir aus Energie bestehen, ist genauso wissenschaftlich nachweisbar wie die Luft, die wir atmen: anhand der Elektronen in unserem Körper, die sehr leicht messbar sind und gemessen werden, wie zum Beispiel durch einen Elektrokardiografen – auch als EKG-Gerät bekannt. Wenn die Elektronen im lebendigen Körper nachweisbar sind und im Toten nicht mehr, dann müssen sie nach dem Tod irgendwohin gehen, denn sie können nicht verloren gegangen sein. 

Mein Onkel hatte keine wissenschaftliche Erklärung für seine Erkenntnis, im Gegenteil: Das, was er erlebt hatte, stand für ihn in einem Widerspruch zu Wissenschaften.

Das, was ich dir sage, habe ich in keinem schlauen Buch gelesen“, legte mir mein Onkel nah, „sondern hautnah erlebt.“

Ein Tag, bevor meine Oma ins Koma gefallen war, sei sie unruhig gewesen. Den ganzen Vormittag habe sie nach meinem Onkel gefragt, erzählte er mir. Als er dann bei ihr war, erkundigte er sich nach dem Grund ihrer Sorge.

Ich dachte, du wärest tot“, habe sie gesagt.

Wie kommst du auf so etwas?“, fragte mein Onkel.

Dein Papa war Morgen hier und sagte, jemand sei gestorben. Ich habe den Namen des Verstorbenen nicht verstanden und dachte, du wärest gestorben, weil ich den ganzen Vormittag nichts von dir gehört hatte.“

Dabei war es meinem Onkel sehr wichtig, mich wissen zu lassen, dass meine Oma von keinem Traum gesprochen und nicht gesagt hatte: „Ich habe von deinem Vater geträumt“, oder „Dein Papa erschien mir im Traum.“

Mein Opa war fünf Jahre vor meiner Oma gestorben,

doch hatte er durchgehend Kontakt zu meiner Oma. Ihre Kinder hatten sich Sorgen gemacht, sie leide zu sehr an dem Verlust ihres Ehemannes und bilde sich etwas ein. Ich glaubte ihr und wusste, dass sie sich nichts ausdachte und tatsächlich Kontakt zu meinem Opa hatte.

Als mein Onkel wieder gehen wollte, habe meine Oma ihn gerufen. „Jemand in der Verwandtschaft ist gestorben“, habe sie gesagt. „Du musst herausfinden, wer das war.“

Mein Onkel sei die Treppen hinuntergelaufen grübelnd darüber, wer wohl hätte gestorben sein können, da niemand krank gewesen war oder dem Tode nahestand. Als er den Ausgang des Krankenhauses erreichte, bimmelte sein Handy. Der Ehemann seiner Cousine sei einige Stunden zuvor völlig unerwartet von uns gegangen, wurde ihm von dem anderen Ende des Hörers beigebracht.

So habe ich verstanden“, sagte mein Onkel zu mir, nachdem er mit seiner Erzählung fertig war, „dass wir nicht um die Verstorbenen trauen, sondern um uns selbst, um unsere Machtlosigkeit und Unwissen, um unsere Behinderung durch unsere eingeschränkten Sinnen. Wir weinen nicht, weil sie weg sind, sondern weil wir sie in ihrer neuen Form mit unseren Sinnesarten nicht mehr wahrnehmen können und das tut weh.“

In den letzten sieben Tagen, während meine Oma im Koma lag und die ganzen Verwandten und Bekannten sich die Tränensäcke trocken weinten, weil sie um das körperliche Wohl meiner Oma besorgt waren, gab es zwei Menschen, die mit etwas völlig anderem beschäftigt waren: Eine meiner Cousinen und ich.

Alles begann mit einem Traum,

in dem meine Oma den Eindruck machte, sie wolle gerne gehen und etwas halte sie hier fest. Meine Cousine und ich schlugen uns eine ganze Nacht um die Ohren bis zur Dämmerung und versuchten herauszufinden, was die Seele meiner im Koma liegenden Oma nicht gehen ließ und wie wir ihr helfen konnten. Und wir wurden fündig. Doch wurde uns klar, dass es sich dabei um eine komplexe Angelegenheiten handelte, die wir nicht auf die Schnelle aus der Welt schaffen konnten. Und wir wollten nicht, dass meine Omas Seele solange im Unfrieden bleibt.

Ich telefonierte mit meinen besorgten Verwandten, um mit deren Hilfe einen Weg zu finden, die Seele meiner Oma zu befreien, und war sehr überrascht – oder eben nicht – als ich bei fast keinem ein Ohr fand. Meine Eltern nahmen die Sache sehr ernst, und versuchten, mitzudenken und aktiv zu werden, doch bei allen anderen scheiterte ich in meinem ersten Satz.

Ich habe ein starkes Gefühl, dass die Oma nicht gehen kann, weil sie etwas hier festhält“, sagte ich ihnen, „was kann das sein?“

Was weiß ich? Ich denke nicht über solche Dinge nach“, lautete die allgemeine Antwort oder meine Angelegenheit wurde erst gar nicht ernst genommen.

Aber wenn eine Seele gehen will, dann müssen wir ihr doch helfen, damit sie ihren Frieden findet, sonst bleibt sie hier und leidet“, erwiderte ich.

Ist jetzt der richtige Moment über so etwas zu sprechen?“

Für mich war diese Erfahrung eine weitere Bestätigung dafür,

dass wir dem Unsichtbaren wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken, oder zumindest nicht soviel, wie wir auf das Materielle und Sichtbare achten. Als wäre die Seele nicht da, nie vorhanden gewesen. Ist das, was die Seele eines Menschen beschäftigt nicht so wichtig wie sein körperliches Befinden, wenn nicht sogar wichtiger? Ein gesunder Körper ist das Ergebnis eines gesunden Geistes und der Geist kann nur dann vollwertig sein, wenn er frei ist. Das ist seine Natur.

Und ich habe nicht verstanden, wann nun der richtige Moment ist, über den Tod zu sprechen. Auch dann nicht, wenn jemand schon im Koma liegt?

Ich bat meine Oma, mich im Traum zu besuchen und mir einen Tipp zu geben. Nichts passierte. Das Gleiche tat ich mit meinem Opa, ebenso vergeblich. Drei Nächte lang konnte ich kein Auge zudrücken grübelnd darüber, was ich nun für meine Oma tun konnte. 

Am Donnerstag, den 13. Mai hatte ich beim Aufwachen schon eine Idee:

Ich solle meine Oma eine Sprachnachricht schicken, geisterte mir durch den Sinn. Da ich nicht wusste, was meine Oma zu hören hatte, um loslassen zu können, bat ich um Führung und nahm eine Sprachnachricht auf. Nachdem ich fertig gesprochen hatte, tauchte ein Bild in meiner Vision auf: Ich sah, wie meine Tante ihr die Sprachnachricht vorspielte, sich verabschiedete und den Raum verließ, und meine Oma von uns ging. Das Bild erschrak mich so dermaßen, dass ich die Sprachnachricht wieder löschte. Wollte ich das wirklich? Ich dachte über das Gesprochene nach und konnte keine geheimen Botschaften finden, die meine Oma befreien würden, so beschloss ich, dass das Bild in meiner Vision nur eine Einbildung gewesen sein müsste und machte eine neue Aufnahme, die ich meiner Tante schickte.

Am nächsten Tag auf dem Weg zu meinem Onkel machte meine Tante einen kurzen Halt beim Krankenhaus: ein Spontanbesuch. Sie teilte die Neuigkeiten mit meiner Oma, legte ihr ein Gebet unter das Kissen, ließ meine Sprachnachricht laufen, verabschiedete sich von meiner Oma und verließ den Raum. Als sie den Ausgang des Krankenhauses erreichte, klingelte ihr Handy … Das war die Krankenschwester gewesen.

Meine Oma ist am Freitag nach Christi Himmelfahrt von uns gegangen,

nur wenige Minuten, nachdem sie meine Sprachnachricht gehört hatte.

Meine Cousine schwor darauf, die Befreiung sei in meiner Sprachnachricht gewesen. Ich hörte mir die Nachricht über und über an, um herauszufinden, ob ich ihr zwischen meinen „banalen“ Worten womöglich eine geheime Botschaft zukommen lassen hatte, die ihr versicherte, sie könne in Frieden gehen, konnte aber nichts finden. Jedoch konnte ich auch nicht glauben, dass das Eintreffen meiner Nachricht und meiner Omas Tod ein Zufall gewesen war. Sie hatte sechs Tage im Koma gelegen und ihre Lage war unverändert gewesen.

Tage lang dachte über diesen offensichtlichen „Zufall“ nach und hörte mir die Sprachnachricht immer und immer wieder an, bis ich vom Blitz des Geistes getroffen wurde und das Rätsel löste.

Meine Oma hatte ein für ihre Verhältnisse und ihre Zeit und nach ihren Wertvorstellungen ein erfülltes Leben.

Sie war 12, als sie meinen Opa heiratete.

Es war kein Zwangsheirat oder Ähnliches, sondern die Tradition der damaligen Zeit. Mein Opa war fünf Jahre älter als sie. Ihr erstes Kind bekam meine Oma mit achtzehn, besser gesagt, das erste Kind, welches überlebte. Davor hatte sie schon drei Kinder verloren. Sie war Analphabetin und vielleicht hätte sie selbst ihre eigene Geschichte geschrieben, wenn sie es gekonnt hätte. Ihr Leben bestand aus ihrer Familie. Ihre Hauptsorge waren die Kinder, die Enkelkinder, ihre Verwandten, die Nachbarn. Sie machte sich Sogen um alle, außer um sich selbst.

Wie die Dinge viel früher gewesen sein mussten, kann ich schwer beurteilen. Aber seit ich mich daran erinnern kann, hatte meine Oma keine einzige Entscheidung für sich selbst getroffen. Ihre Vorhänge, Möbel, die Dekoration in ihrem Haus, einfach alles, um es kurz zu machen, wurde von ihren Kindern ausgesucht. Selbst ihre Klamotten wurden von meiner Tante und meinem Onkel ausgewählt, wenn sie ausgehen wollte. Gebürtig ist sie aus einem friedvollen kleinen Dorf am Fuße eines Berges und sie wohnte in der Großstadt, wo sie sich nie richtig zu Hause gefühlt hat. Wenn sie sich mal nach ihrem Dörfchen sehnte, ließen die Kinder sie nicht hingehen. Ich sprach mit meinen Verwandten, dass sie sie doch gehen lassen sollen. Sie seit bereits über 80 und kein unmündiges Kind!

Wie stellst du das dir vor? Sie kann doch nicht alleine dort sein“, sagten sie.

Meine Oma wurde wie ein unmündiges Kind behandelt, obwohl sie – bis sie vor zwei Wochen ins Krankenhaus kam – sich selbst versorgte. Ich weiß nicht, wie das angefangen hat, dass die Frau, die einst sich um alle kümmerte, und vier Kinder groß gezogen hatte, von eben diesen Kindern bevormundet wurde.

Als ich mich an die Geschichte meiner Oma erinnerte,

wurde mir bewusst, dass die Erlösung meiner Oma tatsächlich in meiner Sprachnachricht versteckt war. Das, was meine Oma nicht gehen ließ, war die Sorge um eins ihrer Kinder. In meiner Sprachnachricht hatte ich ihr Folgendes versichert:

„Wir alle wollen, dass du bei uns bleibst. Aber wenn du lieber gehen willst, dann wäre das sehr egoistisch von mir, von dir zu verlangen hierzubleiben. Wir beten für dich, dass dein Wille geschieht und du im Frieden bist. Wenn du gehen willst, dann lass los. Es wird gesagt, wenn die Welt am Untergang steht, und eine einzige Seele die Hoffnung in ihrem Herzen behält, dann schafft sie es alleine, die ganze Welt zu retten. Ich will, dass du weißt, ich bin diese Seele, und werde die Kerze der Hoffnung bis zum Ende meiner Tage in meinem Herzen tragen, komme, was wolle. Du hast dich immer um alle anderen gesorgt. Triff einmal in deinem Leben eine Entscheidung für dich selbst. Lass los und gehe nach Hause, wenn dies dich vom Leid befreit.“

Wenn mir an dem besagten Donnerstag bewusst gewesen wäre, was meine Worte bewirken könnten, hätte ich sie möglicherweise nie ausgesprochen. Wer will denn schon, dass jemand stirbt? Doch bin ich heute froh, dass ich es gemacht habe, weil mir durch diese Einsicht bewusst wurde, dass jener Moment womöglich der Einzige gewesen ist, in dem meine Oma wahrlich lebte: Der Moment, als sie womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Entscheidung für sich selbst traf: in ihrem Koma und kurz vor ihrem Tod.

Meine Cousine sagte etwas Weises:

„Früher war ich sehr feige. Als ich in die zehnte Klasse kam, habe ich mir gesagt, ich will mutig sein. Und ich bin mutig geworden. Es dauerte eine Zeit, aber ich bin am Werden. Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass wir zu dem werden, was wir entscheiden zu sein.“

Warum ist es so wichtig, dass wir nicht sterben? Dass wir „länger“ leben? Wieso wollen wir so und so viele Jahre alt werden? Beim Leben geht es nicht um die Länge, sondern um die Tiefe. Es geht gar nicht darum, wie lange wir leben, sondern darum, wie wir leben, was wir in unserem Leben erreichen, was wir lernen, wie wir uns entwickeln, auf welche Weise unser Leben uns selbst und unser Umfeld beeinflusst. 

Sara Sadeghi


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